Frühgeburt und Musik – eine Zeitreise in zwei Blog-Beiträgen. Melanie, Mutter einer frühgeborenen Tochter und eines Sternenkindes, berichtet über ihre Erfahrungen auf der Neonatologie und mit Musik. Im ersten Blogbeitrag – der «Rückblende» – schreibt Melanie eindrücklich über ihren Umgang mit Verlust und wie sie zur «Löwenmutter» wurde. Bereits ein Vorgeschmack auf den zweiten Teil, wo es um Alltag, Schule und Motivation gehen wird.
Erwachen im Wechselbad der Gefühle
Am 16.12.2006 kam unsere Tochter Sophia per Notkaiserschnitt in der 26. Schwangerschaftswoche mit 985g zur Welt. Ihre Zwillingsschwester Maria wurde leider still geboren. Notsectio bedeutet ja leider auch Vollnarkose. Und als ich aus der Narkose erwachte, hatten wir unser totes Kind in einem kleinen Weidenkorb bei uns, während Sophia bereits auf der Frühgeborenen-Intensivstation lag.
Ein nicht in Worte zu kleidendes Wechselbad der Gefühle. Das gestorbene Kind bei uns, und das lebende in einer Maschinerie auf der Frühgeborenen Intensivstation. Zwei Tage nach der Operation durfte mich mein Mann zum ersten Mal im Rollstuhl zur benachbarten Kinderklinik und zu unserer Tochter bringen. Dort lag sie also, ein kleines Bündel Mensch, angeschlossen an Schläuchen, eingebettet und bis zur Unkenntlichkeit verkabelt mit einem riesengroßen Hämatom auf der rechten Gesichtshälfte. Aber: Sie lebte!

Sophia im Inkubator – Plüschtiere immer dabei… | Photo © Melanie Wübben
«Löwenmutter»
Schon zu diesem Zeitpunkt entsprang aus mir die Löwenmutter. Und irgendwie war ich damals bereits im tiefsten Inneren davon überzeugt, dass ich nicht zwei Kinder beerdigen werde. Auch wenn ich da scheinbar noch die Einzige war, die dieses glaubte, denn ihre Diagnosen füllten zwei komplette Din A4 Seiten aus. Sophia lies aber wirklich nichts aus. Ab diesem Zeitpunkt war die Frühgeborenen Intensivstation quasi unser zweites Zuhause.
«…irgendwie war ich damals bereits im tiefsten Inneren davon überzeugt, dass ich nicht zwei Kinder beerdigen werde.»

Mutter und Tochter am Inkubator | Photo © Melanie Wübben
Die Musiktherapeutin – eine «Verbündete»
Als ich eines Tages wieder an der Tür zur Neonatologie klingelte, traute ich meinen Augen nicht: Vor mir stand Friederike, eine ehemalige Mitschülerin, und heute liebgewonnene Freundin, mit der ich Abitur gemacht hatte. Sie war als Musiktherapeutin auf der Station tätig. Nach dem anfänglichen Schockerlebnis, Tränen der Erleichterung, war das der erste Lichtblick in der ganzen Zeit, denn fortan hatte ich eine „Verbündete“, die mir/uns half, den Alltag etwas besser zu ertragen.
Friederike setzte sich dafür ein, dass Sophia bereits im Inkubator Musiktherapie bei ihr bekam. Unser Kind war erst wenige Tage alt, als Friederike bereits behutsam für sie sang. Ebenso bekam sie bereits in dieser frühen Zeit Physiotherapie und Reiki-Behandlungen. Musiktherapie? Physiotherapie bereits im/am Inkubator? Früher hätte ich die Betroffenen für verrückt erklärt, doch diesmal war ich die Betroffene – und griff wirklich nach jedem Strohhalm, der irgendwie dazu beitrug, Sophias Überleben zu sichern. Wird sie es schaffen? Wann höre ich endlich von den Ärzten: Sie ist über dem Berg?
«Im Schneckentempo» – mit Musik durch Höhen und Tiefen
Die Zeit verging wirklich im Schneckentempo und nach einem kleinen Hoch, kam meistens auch wieder ein größeres Tief. Stundenlang saß ich am Inkubator las und sang Sophia vor, immer in der Hoffnung, ein kleines Zeichen von ihr zu bekommen, dass es bergauf geht. Sie bekam regelmässig die musiktherapeutischen Sitzungen bei Friederike, erst im Inkubator und dann beim Känguruhen auf meiner Brust.
Es war schon irgendwie seltsam, auf der Intensivstation für meine Tochter zu singen, aber schon bald konnte ich am Monitor die ersten Erfolge erkennen, dass sie viel ruhiger wurde. War es anfangs nur ein Brummen bzw. Summen, wurde ich zunehmend mutiger und sang auch einzelne Grundtöne und kleine Melodien, unabhängig davon, wie viele Menschen um mich herum waren.
«Tragende Säulen» – unterstützt werden und unterstützen
Friederike und die Krankenhausseelsorgerin initiierten in dieser Zeit auch einen Eltern-Gesprächskreis, an dem ich gerne teilnahm. Daraus entwickelte sich später der Verein «Frühlinge OWL e.V.», zu dessen Gründungsmitgliedern ich zähle. Denn ich wollte all mein Wissen, all meine Erfahrung gerne weiter geben.
Aufmerksam Lesenden ist sicherlich nicht entgangen, dass ich in dieser Zeit drei vertrauensvolle und kontinuierlich präsente Säulen hatte, die Licht und Wärme in die dunkle Zeit brachten, und die uns sehr halfen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken:
die Musiktherapeutin Friederike, die Krankenhausseelsorgerin und die Physiotherapeutin.
Etappenziel geschafft! Und Eure Gedanken? Schreibt mir!
Und das Wunder geschah: Sophia hat es geschafft. Erstes Ziel erreicht! Nach 79 Tagen und Hunderten von Kilometern auf der Autobahn durften wir unseren kleinen Sonnenschein endlich mit nach Hause nehmen. Was uns Zuhause im Alltag erwartet hat, werde ich im nächsten Blog schildern.
In der Zwischenzeit freue ich mich auf Eure Kommentare und Gedanken.
- Habt Ihr ähnliche Erfahrungen gemacht?
- Was hat Euch in dieser Zeit geholfen?
- Und was müsste verbessert werden, um Eltern bei Früh- und Stillgeburt besser zu unterstützen und zu begleiten?
Liebe Melanie,
ich danke Dir von ganzem Herzen für diesen persönlichen Beitrag. Auch wenn es schon so lange her ist, schilderst Du Deine Erfahrungen so eindrücklich, als wäre es gestern gewesen. Ich kann mir Deine Gefühle nur ansatzweise vorstellen und habe Dich schon damals für Deine Stärke, Deine Hoffnung und Deine positive Einstellung bewundert. Löwenmutter, ja das trifft den Nagel auf den Kopf. Das warst, bist und wirst Du immer sein.
So schön, dass Du auch meine beiden lieben Seelsorge und Phsysiotherapie Kolleginnen als so hilfreich und unterstützend erwähnst. Wir haben alle drei den Luxus, das wir mit einem sinn- und beziehungsstiftenden Medium mit Menschen in Kontakt treten dürfen: mit Berührung, mit Spiritualität und mit Musik. Denn gerade in den herausfordernsten Phasen unserer Lebens braucht es oft mehr als nur tröstende Worte.
Ich freue mich auf Deinen zweiten weiterführenden Beitrag, insebondere natürlich von Sophia zu hören! Richte Ihr bitte ganz liebe Grüße von mir aus, friederike
Liebe Grüße aus Bielefeld, danke für deine berührenden Worte. Die Geschichte meiner Familie ähnelt sich mit deiner. Hannah und Hugo, geboren mit 24+4, haben auch ihren Start ins Leben auf der Intensivstation begonnen. Und wir Eltern wurden viel zu früh Eltern und purzelten in eine Art Paralleluniversum, bestehend aus Milchpumpen, Sondierungsmengen, Monitorgepiepe und Besuchszeiten. Und wie bei euch, gab es die wohltuende Seelsorgerin, die tönende Musiktherapeutin und die berührende Physiotherapeutin. Und wenn das Sprichwort sagt, dass es ein ganzes Dorf bedarf um ein Kind großzuziehen……so brauchten wir ganze Metropolen.Und wenn man das unmögliche versucht, wird das Mögliche möglich. Jetzt starten wir in das nächste Abenteuer, die beiden sind Großkleine stolze Schulkinder. Ich bin auf deine Erfahrungen ganz gespannt, und freue mich auf deinen nächsten Text. Liebe Grüße an die Löwenmama.
Liebe Fidi, liebe Heike,
ich bin sehr geflasht und berührt von euren bewegenden Worten: DANKE, DANKE, DANKE!!!
Hier sieht man wieder, auch durch Heikes Geschichte, dass vieles Unmögliche doch möglich ist….und ein Kampf sich auf alle Fälle, in jedem Fall immer lohnt!
Wie hast du es noch so nett ausgedrückt, liebe Fidi?
‚Ein Sinn- und Beziehungsstiftendes Medium‘, besser kann man es einfach nicht ausdrücken.
Dennoch sind die Personen, die da hinter stehen, und es für und mit unseren Kindern praktiziert haben, die ‚wunderbaren Leuchttürme‘, die unsere kleinen Großen ein Stück weit zu dem gemacht haben, was sie heute sind: Wunderbare Menschen!!!
Deshalb nochmal ein großes Lob und großer Dank an dich liebe Fidi und deine Kollegen. Eure Arbeit ist großartig und einzigartig!!!
Und Heike, euch wünsche ich einen ganz tollen und spannenden Start in die Schulzeit!!!
Liebe Löwenmama
Vielen Dank dir für diesen berührenden Einblick in eure Geschichte!
Ich selbst hab noch keine Kindern, jedoch einen jüngeren Bruder, welcher in einer ähnlichen Situation geboren wurde. Deine Schilderung hat bei mir einige Tränen, aber auch Freude und Stolz ausgelöst, wie meine Familie und mein Bruder unseren Weg gehen.
Auch euch wünsche ich von Herzen viele liebe Menschen die euch begleiten und freue mich darauf, ein Update von Sophias und eurem Leben lesen zu dürfen.
Herzlich, Bettina
Liebe Bettina,
hab vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Es freut mich, zu hören, dass dir mein Beitrag gefallen hat.
Ja, da kannst du wahrlich stolz und froh sein, dass du mit deiner Familie und deinem Bruder diesen Weg gehst und ihn so gut beim Start in sein Leben begleiten konntest. Die Familie ist in so einer Situation enorm wichtig, und es wird leider viel zu oft vergessen, dass sie auch stark mitfühlt, mitleidet.
Wir hatten in dieser schweren Zeit viele liebe Menschen, die uns unterstützt haben und mit uns gemeinsam den Weg gegangen sind, wie u.a. unsere Musiktherapeutin, die liebe Friederike, die Krankenhauspastorin und auch unsere Physiotherapeutin. Mit Ihnen gemeinsam durften wir diesen Weg gehen und sind im Nachhinein so enorm gestärkt aus der anfänglichen, herausfordernden Zeit heraus gekommen.
Sophia ist heute, fast 14 Jahre nach ihrem zu frühen Start ins Leben, unser Sonnenschein und zu einem gut 1,74m großer Teenager heran gewachsen. Somit ist sie körperlich das größte Mädchen ihrer Klasse. Wer hätte das damals gedacht? Wie man daran deutlich sehen kann, kann etwas, was mal so klein begann, einmal zu was ganz Großem werden. Ein Update von Sophia, bzw. die Fortsetzung ihrer Geschichte folgt in Kürze.
Dir und deiner Familie, besonders deinem Bruder, wünsche ich genau so viele helfende Hände und Unterstützung, wie wir sie erfahren durften, und die Freude und Dankbarkeit darüber so ein kleines Menschenleben mit in die große Welt begleiten zu dürfen.
Alles Liebe für dich und deine Familie, Melanie